Dr. habil. Marcin Kościelniak

Dr. habil. Marcin Kościelniak – Kulturwissenschaftler, Theaterwissenschaftler, Professor an der Jagiellonen-Universität. Er beschäftigt sich mit der nachkriegspolitischen Kultur Polens, insbesondere mit den Themen der verteilten Macht, symbolischer Gewalt, politischer Kunst und den Mechanismen der Wissensproduktion über die Vergangenheit. Autor mehrerer Monografien und Sammelbände. Zuletzt veröffentlichte er das Buch Aborcja i demokracja. Przeciw-historia Polski 1956-1993 (2024) und war Mit-Herausgeber des Bandes Autocenzura i cenzura. Nowe ujęcia (2024).

Abtreibung und Demokratie. Die Kirche, die Opposition und der Ausschluss der Frauenrechte in den Jahren 1980-1993
Die nachkriegsgeschichte Polens, die wir kennen, ist eine Erzählung über den triumphalen Marsch vom Totalitarismus zur Demokratie entlang der sogenannten polnischen Monate (1956, 1968, 1970, 1976, 1980, 1989). Der Protagonist dieser Erzählung ist die „Nation“ oder das „Volk“, die Kirche spielt eine Rolle als Verbündeter der Opposition im Kampf gegen die Kommunisten für die Demokratie, und die III. Republik Polen wird als Höhepunkt des „polnischen Weges zur Freiheit“ dargestellt. Diese hegemoniale Erzählung, die durch Schulbücher, Geschichtsbücher und staatliche Institutionen verfestigt wird, ist ein Spiegel, in dem sich die polnische Gesellschaft gerne stolz betrachtet.

Die Sache wird jedoch anders aussehen, wenn man das Recht auf Abtreibung als unveräußertes Frauenrecht und unveränderliches Kriterium der Demokratie zum zentralen Forschungsthema und politischen Fokus der polnischen Geschichte macht. In dieser historischen Erzählung wird der Wendepunkt das Jahr 1956 sein, in dem die Entkriminalisierung der Abtreibung als revolutionäre Errungenschaft des autoritären Kommunismus im Sinne der Freiheit, der Frauenrechte und der Demokratisierung des sozialen Lebens gefeiert wird – und ihr Ende bildet die Verletzung der Frauenrechte durch das gesetzliche Abtreibungsverbot, das 1993 von der ehemaligen demokratischen Opposition und der Kirche eingeführt wurde.

Die Vorlesung wird auf Forschungsarbeiten basieren, die im Rahmen eines Projekts des Nationalen Wissenschaftszentrums durchgeführt wurden und in dem Ende 2024 von Krytyka Polityczna veröffentlichten Buch Aborcja i demokracja. Przeciw-historia Polski 1956-1993 vorgestellt werden. Ich werde mich auf zwei Ereignisse-Märchen konzentrieren: den August ’80 und den Juni ’89. Diese Ereignisse, die Teil der nationalen Mythologie sind und von der Ungehorsamkeit der polnischen Gesellschaft gegenüber der kommunistischen Macht erzählen, werde ich anders darstellen: als Zeugnisse ihrer Unterordnung – gegenüber der Macht der Kirche. Der Dreh- und Angelpunkt dieser Erzählung werden nicht nur neue Forschungsperspektiven und politische Aspekte sein – sondern vor allem unbekannte oder marginalisierte Dokumente und Fakten. Im Licht dieser Quellen wird die Kirche und die von ihr gepflegten sogenannten „christlichen Werte“ nicht mehr Synonym für Menschenrechte, sondern deren Bedrohung sein – und die polnische Nachkriegsgeschichte wird von einer Erzählung über den siegreichen Weg zur Freiheit zu einer Erzählung über den Ausschluss der Frauenrechte und das Scheitern der Demokratie werden.